Evelyn von Känel
eine Menschen, Minderheiten und Tiere Liebende
Minderheiten sind ihr ein Anliegen. So könnte die Bilanz dieses Textes lauten. Allerdings wird ihr die Reduktion auf einen einzelnen Begriff nie gerecht. Evelyn von Känel lässt sich nicht in ein Klischee pressen. Die Lehrkraft für Kinder und Erwachsene, Sonderpädagogin, Reittherapeutin, Familienfrau, Mutter eines schwerbehinderten Sohnes, Ponyhoffrau, Engagierte in sozialen und gesellschaftlichen Fragen wäre als Leichtathletin (mindestens) Siebenkämpferin.
Lehrerin will die Schülerin Evelyn werden, das ist nie eine Frage. «Eine gute Entscheidung, eine gute Basis, das würde ich wieder tun», kann sie heute ohne zu überlegen bestätigen. So erwirbt sie die Lehramt-Matur, das Primarlehrerinnendiplom, fördert während einem halben Jahr in den USA ihr Englisch und gibt ihr Debut mit einer Klasse, die sie während dem zweiten und dritten Schuljahr begleitet. Das Fernweh führt sie dann für ein halbes Jahr nach Chile und das Heimweh zurück zu ihrem Freund, den sie vor der Reise kennengelernt hat. Lateinamerika, die Dritte Welt-Problematik interessieren sie und kämen nicht schon bald andere Aufgaben auf sie zu, wer weiss...
Evelyn wird 24-jährig Mutter und gibt bald stundenweise wieder Schule. Eineinhalb Jahre später gesellt sich zu Michi Bruder Dominic. Das Ehepaar freut sich an seinen zwei gesunden Buben. Dann schlägt wie ein Blitz aus heiterem Himmel beim neun Monate alten Dominic ein Grand Mal-Anfall ein: Epilepsie. Er ist in Lebensgefahr, erholt sich, die Anfälle wiederholen sich alle zwei, drei Monate, dann mit zunehmender Kadenz. Die übrige Entwicklung verläuft während zwei Jahren normal. Unter der Eskalation der Krankheit leidet die geistige Entwicklung. Der Knabe der altersentsprechend spielt und spricht, verliert später bereits erworbene Fähigkeiten wieder. Der Dreijährige erleidet bis zu hundert «kleine» Sturzanfälle pro Tag – eine seltene, unfassbare Form der Krankheit. Die spitalintern geplante Behandlung verzögert sich durch eine Blinddarmentzündung. Schlussendlich führen Evelyn von Känel und ihr Mann, auch er Lehrer, die Kortisonkur (ACTH) mit extremen Nebenwirkungen zu Hause durch – während zweieinhalb Jahren. Sie werden intensiv begleitet durch engagierte Ärzte.. «Es war eine sehr schwierige Zeit mit dem kaum mehr ansprechbaren Kind, aber es hat sich gelohnt, die Sturzanfälle waren weg» ist ihr Fazit.
In Evelyn von Känel wächst der Wunsch, sich qualifiziert mit dem Thema und dem Umgang mit Behinderung auseinanderzusetzen. 1990, als Dreissigjährige, beginnt sie an der Universität Zürich Sonderpädagogik zu studieren. Parallel dazu arbeitet sie drei, vier Stunden pro Woche als schulische Therapeutin, was ihr – neben der Betreuung ihres Sohnes – ein Praktikum erspart. Sie führt kein sprichwörtliches Studentenleben, denn da sind ihr Mann, der sie in allen Belangen unterstützt, die Kinder Michi und Dominic und da ist das parallele Pensum in der Schule – Dyskalkulie-Therapie und Aufgabenhilfe, ab 1994 Deutsch für Fremdsprachige. Und ihre Ponys...
Eine Kollegin bietet therapeutisches Reiten an. Evelyn nimmt mit Dominic diese Gelegenheit wahr. Mit der Zeit bekommt er vor lauter Vorfreude schon vor der Hinreise Anfälle. Evelyn von Känel, die Tatkräftige, kauft 1993 ein Pony – ohne eigene «tierische» Vorgeschichte, mit dem Argument: «Dominic muss dann ein Ross haben, wenn es ihm gut geht!» Bereits drei Monate später zieht ihr Isländer aus dem gemieteten Stall um auf das «eigene» Land. Der Glücksfall: Ein Bauer, der die Milch-wirtschaft aufgibt, Freude hat an Pferden, künftig das Heuen und die Pflege der Weide besorgt. Es entstehen vor (idyllischem) Ort einfache Ställe für das Pony, für ein zweites, drittes und viertes. Und es wächst eine grosse Liebe. Die Tiere mit ihren sehr unterschiedlichen Charakteren werden sozu-sagen Familienmitglieder.
In diese Zeit fällt ein Schlüsselerlebnis. Sie nimmt eines ihrer therapeutisch betreuten Schulkinder, ein stets trauriges Mädchen, anstelle der schulischen Arbeit für eine Lektion mit zu den Pferden. Es reagiert sehr positiv. Von einer Fachperson wird sie aber mit den Worten gerügt: «Was haben sie überhaupt für eine Ausbildung, dass sie sich diese ungewöhnliche Entscheidung erlauben!» Sie zieht aus dem Vorfall zusätzlich Energie und Motivation, um ihr Studium durchzustehen und vor allem abzuschliessen. 1996 erwirbt sie das Lizentiat, mit einer Arbeit mit dem Titel: «Behinderung als Thema in der Schule». Sie wird sich für das Thema auch künftig in Projektwochen und -gruppen einsetzen. In wechselnden Rollen wirkt sie weiter im schulischen Umfeld, teils in parallelen Engagements: Als TaV-Entlastungsvikarin, als Lehrerin für die integrierte Schulreform (ISF), als Heilpädagogin an einer heilpädagogischen Frühberatungsstelle und heute als Heilpädagogische Fachlehrkraft (HF) an einer Primarschule.
Ab 1994 pilgern Kundinnen und Kunden auf ihre Weide. Es sind zuerst Lehrkräfte, «Gschpänli» von Michi und Therapiekinder. Nach und nach entwickelt sich ein gut gefragtes Angebot für behinderte, ängstliche und schüchterne, aggressive und hyperaktive Kinder und solche mit Wahrnehmungsstörungen. Es kommen auch viele Kinder, die einfach an Pferden Freude haben. Behinderte, nicht behinderte Kinder und Eltern überwinden Grenzen. Buchstäblich vorgelebt wird das zudem von den Tieren, die keine Vorbehalte kennen. Heute stehen in den Ställen von Evelyn von Känel zwölf Is- und Shetländer (http://www.reittherapie.ch.vu/). Sie stellt fest: «Jetzt ist eine Grenze erreicht, ich bin froh um eine Frau, die phasenweise mitarbeitet, auch mit eigenen Angeboten». Die erworbene reiche Erfahrung, ihr innovativer Umgang mit therapeutischen Angeboten und ihr fachlich fundierter Hintergrund werden seit 1998 geschätzt in der Ausbildung für Reitpädagoginnen und -pädagogen SV- HPR.
Ein weiteres Wirkungsfeld ist bis heute die mit ihrem Mann geteilte Arbeit mit Dominic, der inzwischen 17-jährig, zu Hause lebt und eine Sonderschule (Tagesschule) besucht. Dominic benötigt rund um die Uhr Betreuung. Die therapieresistente Form der Epilepsie produziert auch heute regelmässig Grand Mal-Anfälle. Ihr Schaffen mit Dominic dreht sich zentral um Lebensqualität – ihr Motto dabei: «Leben fördernd gestalten.» Dazu gehören Spiele, das Puzzle zum Beispiel, das Ermöglichen von Aussenwelt in der Natur, mit den Ponys, auf dem Dreiradtandem und so weiter. Der einst quirlige, hyperaktive Dominic – immer noch ein sonniger Knabe mit offenem, eindringlichem Blick – ist ruhiger geworden, zuweilen lethargisch. Er benötigt zunehmend Einzelbetreuung. Von Känels suchen schon lange nach einem geeigneten Platz in einer Institution. Im Wissen, dass Dominic auf sehr intensive Betreuung angewiesen ist, verwerfen sie viele Angebote. Das bringt der Mutter immer wieder den Vorwurf ein, ihr Kind nicht loslassen zu können. Unter dem Einfluss dieser Erlebnisse entwickelt Evelyn von Känel das Konzept «Wohnen mit integrierter Tagesstruktur – Wohngemeinschaft auch für schwerbehinderte Menschen» und sucht das Gespräch mit anderen Fachleuten. Aus dieser entschlossenen Aktivität findet sie dann doch die Lösung, nach der sie so lange sucht. Sie erhält den Tipp für eine geeignete Institution, genau zu dem Zeitpunkt, als dort ein Platz frei wird. Ab nächstem Jahr kann Dominic die Tage unter der Woche gänzlich in dem kleinen Wohnheim für Schwerbehinderte verbringen. Dankbar ist Evelyn für die vielen feinen Menschen, die rund um Do-minic eine Rolle spielen: Da sind die Ärzte, der Kinderpsychiater – Dominic liebt ihn, da ist der Verein «Entlastungsdienste für Familien mit Behinderten» und Frau K., die ihn nun seit vierzehn Jahren liebevoll mitbegleitet.. Und da sind viele andere Leute aus dem erweiterten Netzwerk und last, not least ist Michi zu erwähnen, der mit Gelassenheit und Natürlichkeit immer ein einfühlender Bruder ist.
Evelyn wäre nicht Evelyn, wenn da nicht noch ein paar weitere Aktivitäten aufgezählt werden könnten. Zwei seien genannt: Sie unterstützt als Mitglied des Stiftungsrates von «Pigna - Raum für Menschen mit Behinderung» (http://www.pigna.ch) ein Wohnheim und Anliegen der Behindertenarbeit im Raum Zürcher Unterland/Glatttal. Und sie präsidiert den Verein ZUF (Zürcher Unterland für gerechte Fluglärmverteilung). Wie bewältigt sie all das – ohne gestresst zu wirken nota bene? Sie würde eine bescheiden abwinkende Antwort finden. Evelyn von Känel schafft mit Freude, auch mutig, sie kann sich in allem auch beschenkt fühlen und hat zudem die Fähigkeit, trotz hohen Ansprüchen an sich und die Ausführung, effizient und auf das Wesentliche gerichtet zu arbeiten. Und als Gesprächspartner freut man sich über die Begegnung mit einer offenen, geraden, unkomplizierten Persönlichkeit.
Portrait verfasst von Peter Gisler für die Homepage: www.gisler-coach.ch